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„Es ist zu einer realistischen Option geworden“

21. Dezember 2017Michelle

Frauen werden von Jahr zu Jahr älter bei der Geburt ihres ersten Kindes. Für Frauen in den vorzeitigen Wechseljahren kann dieser gesellschaftliche Trend zum Problem werden. Die Soziologin Dr. Jasmin Passet-Wittig forscht im Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung zum Thema Familie und Fertilität. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich vor allem mit Paaren, die sich dazu entscheiden, ihren Kinderwunsch in einem Kinderwunschzentrum zu realisieren. Ein Grund nachzuhaken: Sind Fertilitätsprobleme und Kinderlosigkeit ein Tabu oder Normalität?

Frau Passet-Wittig, das durchschnittliche Alter einer Frau bei der ersten Geburt liegt bei mittlerweile fast 30 Jahren. Woran liegt das?

Zum einen hängt das damit zusammen, dass Frauen häufiger studieren und dadurch später auf den Arbeitsmarkt kommen und lieber ein, zwei Jahre arbeiten wollen, bevor sie Kinderkriegen möchten. Zum anderen werden Partnerschaften und Beschäftigungsverhältnisse instabiler. Das lässt den Kinderwunsch ebenfalls bei vielen Menschen nach hinten rücken. Ganz wichtig ist natürlich auch der gesellschaftliche Wandel. Die Einführung der Pille hat das Kinderkriegen beispielsweise zu einer bewussteren Entscheidung und somit zu einer Option gemacht. Manche wollen heute vorher Reisen, sich selbst verwirklichen und dann irgendwann in Zukunft vielleicht Kinder kriegen.

Ist Kinderlosigkeit dadurch auch gesellschaftlich akzeptierter, als früher?

Man kann natürlich sagen: Je mehr Menschen keine Kinder bekommen, desto eher wird Kinderlosigkeit auch zu einem realistischen Lebensentwurf. Und dies trotz der auch heute noch sehr tief verwurzelten Zweikindnorm. Kinderlos zu bleiben ist also kein Tabu mehr, wie es vielleicht in den 50er/60er Jahren der Fall war.

Dr. Jasmin Passet-Wittig beschäftigt sich vor allem mit den Themen Kinderlosigkeit und Reproduktionsmedizin (© Dr. Jasmin Passet-Wittig)

Die Gesellschaft wird also insgesamt offener gegenüber Kinderlosigkeit. Kinder zu haben ist aber immer noch die Normalität, verstehe ich sie da richtig?

Unsere Leitbildstudie zeigt vor allem, dass die persönlichen Einstellungen meist viel moderner sind, als das, was die Befragten in der Gesellschaft wahrnehmen. Daran wird deutlich: Solche Wandlungsprozesse sind immer sehr träge. Es geht hier um Normen und Werte, die tief in der Gesellschaft verankert sind. Entsprechend sind traditionelle Vorstellungen von Familie wie sie in den 50er/60er Jahren gelebt wurden immer noch präsent. Das spiegelt sich auch in unseren Gesetzen wieder. Die Kostenerstattung für Kinderwunschbehandlungen ist in der gesetzlichen Krankenkasse auf verheiratete Paare beschränkt.

Viele Frauen, die vorzeitig in die Wechseljahre kommen berichten, dass sie sich nach der Diagnose kurzzeitig nicht mehr wie eine Frau gefühlt haben. Liegt das an diesen Normen und der allgemeinen Familienorientierung?

Dieses Gefühl kommt vielleicht oft gar nicht so sehr aus einem selbst heraus, sondern eher aus den Erwartungen mit denen man groß geworden und sozialisiert ist. Diese Diskrepanz zu überbrücken kann schwierig sein. In jedem Fall beeinflussen in der Gesellschaft oder im sozialen Umfeld prävalente Vorstellungen unser Handeln.

Wie viele derjenigen, die wissen, dass sie ein Fertilitätsproblem haben, begeben sich tatsächlich in Behandlung?

In Deutschland gibt es leider wenige Zahlen dazu, aber wir nehmen an, dass in etwa die Hälfte derjenigen, die ein Fertilitätsproblem haben auch medizinische Hilfe suchen. Nicht alle wenden sich allerdings an die Reproduktionsmedizin. Man kann sagen, dass letztendlich ungefähr zwei Prozent aller Geburten in Deutschland mittels Kinderwunschbehandlungen entstehen.

Spricht man darüber, dass man in Kinderwunschbehandlung ist?

Wir wissen, dass es hilft darüber zu reden. Man spricht darüber, aber nicht im breiteren Umfeld. Für viele ist der erste Ansprechpartner natürlich der Partner. Die Forschung zeigt außerdem, dass Paare mit der Situation an sich gut umgehen und an solchen Krisensituationen sogar als Paar wachsen können. Auf der anderen Seite ist es natürlich für einige ein unangenehmes Thema, vor allem für Männer.

Also sind vielleicht sogar mehr Menschen im eigenen Umfeld in einer ähnlichen Situation wie man selbst, als man denkt?

Tatsächlich ist es so, dass in bestimmten sozialen Gruppen fast jeder jemanden kennen müsste, der sich mit dem Thema schon mal beschäftigt hat, oder deshalb schon mal beim Arzt war. Im Zweifelsfall weiß man es nur einfach nicht, weil wenig darüber gesprochen wird. Es ist gut möglich, dass man tatsächlich gar nicht so allein mit seiner Situation ist, wie man vielleicht denken mag.

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